Das Original
Rainer Jerosch
Lächeln im Regen (1964)
Regen fiel und die Luft war voller warmer Feuchtigkeit. Lächeln müsstest du, sagte er zu sich, während er die Allee entlangging, lächeln, wie die Weisen im Orient es tun. Es ist nicht wert, dass du mehr tust als lächeln. Und er lächelte auch, ein gezwungenes Lächeln, aber er lächelte. Vor zehn Minuten hatte er sie noch gesehen. Es hatte schon zu regnen begonnen.
„Wirklich nicht?“, fragte er.
„Nein“, sagte sie.
Ihre Augen hatten keinen Ausdruck. Es war, als sähe sie ihn am anderen Ende der Straße und als wäre er dort und nicht neben ihr.
„Du bist so merkwürdig“, sagt er. „Ich weiß nicht, was los ist.“
„Es ist gar nichts los“, entgegnete sie widerwillig.
Sie sah die Straße hinunter und ihre Augen waren stumpf und ohne Glanz. An beiden Seiten der Straße standen Bäume, und der Regen fiel, und die Blätter glänzten.
„Was ist nur mit dir los?“, sagte er. „Du bist schon voriges Mal so komisch gewesen.“
„Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst“, sagte sie. Sie stand am Hauseingang an die Tür gelehnt. Er stand zwei Stufen tiefer auf den nassen Fliesen vor dem Haus.
„Ich möchte jetzt wissen, was dich so verändert“, sagte er. „Ich möchte das endlich mal rauskriegen. Willst du mir nicht sagen, was los ist?“
„Nein“, sagte sie.„Ich weiß nicht, wovon du redest.“
„Das weißt du sehr genau“, sagte er.
Sie antwortete nicht, und es entstand eine Pause. Es regnete, und sie blickte die Straße hinunter auf die Blätter, und es war ein geheimnisvolles Rauschen in der Luft.
„Ich verstehe dich nicht“, sagte er. „Bin ich dir zu langweilig geworden, oder was ist los?“
„Ich weiß nicht, was du immer hast!“ Sie war sehr ungeduldig.
„Ich habe überhaupt nichts“, sagt er, „aber du tust so, als wäre ich Luft und als langweilte ich dich.“
Sie sagte nichts und blickte an ihm vorbei. Der Asphalt auf der Straße spiegelte den Regenhimmel und die Erde zwischen Kantstein und Fußgängerweg war weich und moorig.
„Und morgen?“, fragt er.
„Ich sage dir doch, ich kann nicht!“ Sie sah auf die Häuser, die hinter den Bäumen hervorblickten und in großen, grünen Gärten standen.
„Gut“, sagte er und fühlte sich elend. „Gut, dann also nicht. Ich gebe die Theaterkarten zurück.“
Sie rührte sich nicht und er fühlte sich scheußlich elend.
„Auf Wiedersehn!“,sagte er.
„Leb wohl“,entgegnete sie.
Dann klappte die Tür und er wusste, dass er jetzt fortgehen musste. Er drehte sich langsam um und ging die Straße hinunter. Du solltest es nicht so ernst nehmen, sagte er sich. Es lohnt sich nicht. Es lohnt sich wirklich nicht. Man müsste darüber lächeln können, wirklich nur lächeln. Und er lächelte das gezwungene Lächeln, und es regnete durch die Bäume vom grauen Himmel.
Ein Perspektivwechsel
von Johanna Langreiter, 8c
Ein Klopfen; zaghaft, kaum lauter als das beständige Prasseln des Regens. Und doch setzte mein Herz für eine Sekunde aus. Denn ich wusste, wer da draußen im Regen vor der Tür stand, wusste ganz genau, was ich zu tun hatte. Ich schloss die Augen und erinnerte mich daran, dass dies der einzige Weg war, dass ich dieses Spiel nicht länger spielen konnte, dass es nicht fair war - beiden gegenüber - ehe ich meine Augen wieder öffnete. Da nochmal, diesmal war das Klopfen etwas lauter, dringlicher. Ich konnte mich nicht länger drücken, das wusste ich. Ich hätte es schon lange hinter mich bringen müssen. Mit schweren Schritten erhob ich mich vom Sofa und ging in Richtung Tür. Vielleicht war er es ja gar nicht da draußen, versuchte ich mir einzureden. Vielleicht hatte er ja vergessen, dass wir zum Theater verabredet waren. Aber nein, so war er nicht. Er war immer so lieb und fürsorglich. Und ich so gemein. Doch was sollte ich tun, wenn ich bei ebendiesen Worten an jemand anderen denken musste? Wenn mein Herz nicht mehr bei ihm anfing, schneller zu schlagen und die Schmetterlinge in meinem Bauch längst davongeflogen waren, wenn wir zusammen waren? Davongefolgen, weitergeflogen, hin zum nächsten.
Ich war bei der Haustüre angelangt. Mit zittrigen Fingern drückte ich die Klinke herunter, öffnete die Tür langsam und blickte in ein Paar kastanienbraune Augen. Früher war ich bei seinen Rehaugen dahingeschmolzen, jetzt nervte mich dieser treue Hundeblick eher. „Da bist du ja endlich, ich dachte schon du hättest mich versetzt“, meinte er mit einem schiefen Grinsen. Erleichterung blitzte in seinen Augen auf, Erleichterung und Hoffnung. Beides würde ich ihm gleich nehmen müssen. Ich würde ihm das Herz brechen! Doch es war besser so, er hatte mich nicht verdient. „Es tut mir leid, aber…“, ich biss mir auf die Unterlippe, „ich kann nicht.“ „Was, aber warum denn nicht?“ Verständnislos blinzelte er mich an. „Hast du keine Zeit heute?“ Verdammt, er verstand nicht, worauf ich hinauswollte. Ich konnte nicht nur heute nicht, ICH KONNTE NICHT MEHR! Ich war es leid dieses Spiel zu spielen. Viel zu lange hatte ich mich gedrückt. Doch alles, was aus meinem Mund kam, war ein simples: „Nein, ich kann einfach nicht“. Ich konnte einfach nicht, ihm die Wahrheit sagen, ihm von dem Mann erzählen, dem mein Herz schon immer gehört hatte. Alte Liebe rostet nicht… so war es wohl. Eine Jugendflamme aus alten Zeiten und doch hatte es sich so frisch angefühlt, als wir uns vor einem Jahr das erste Mal seit langem wieder getroffen hatten.
„Hör zu, ich denke, es ist das Beste, wenn du wieder gehst“, murmelte ich und war kurz davor, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Wenn ich nur garstig genug war, würde er es vielleicht endlich kapieren. Doch er war schneller und stoppte die Tür mit seinem Fuß. „Was ist nur los mit dir, ich erkenne dich gar nicht wieder? Willst du mir nicht endlich mal sagen, was los ist?“, fragte er mich eindringlich, während er mir in die Augen schaute, welche selbst jetzt noch ruhig und liebevoll waren. Nein, ich konnte das nicht, ihm reinen Wein einschenken und ihm das Herz brechen. Ich wandte den Blick ab. „Ich… Mit mir ist nichts!“. Jedenfalls nichts Schlimmes. Er sollte bloß aufhören, Mitleid mit mir zu haben. „Und warum ignorierst du mich dann?“ Vielleicht weil ich jedes Mal, wenn ich mit ihm zusammen war, von Schuldgefühlen überschwemmt wurde? Weil ich, auch wenn ich es noch so sehr versuchte, das Bild eines anderen nicht aus meinem Kopf bekam? „Bin ich dir zu langweilig geworden, oder was ist los?“, fragte er mit einem Anflug von Verzweiflung in seiner Stimme weiter. Stumm blickte ich an ihm vorbei, auf die Straße, die vom immer stärker werdenden Regen ertränkt wurde. Wenn er wüsste, wie recht er mit seiner Annahme hatte. Ich sehnte mich nach frischem Wind in meinen starren Segeln, neuen Abenteuern, mit dem richtigen Mann an meiner Seite. „Gut“, flüsterte er. „Gut, dann also nicht. Ich gebe dir die Theaterkarten zurück.“ Mit zitternden Fingern nahm ich sie entgegen. Sie fühlten sich schwer wie Stein an in meiner Hand. „Auf Wiedersehn“, sagte er, ohne mir in die Augen zu blicken. Nein, nicht auf Wiedersehn, das hier war endgültig. „Leb wohl“, flüsterte ich, ehe meine Stimme brach. Ich wollte noch etwas hinzufügen, ihm erklären, wieso und ihm sagen, wie unendlich leid es mir tat, dass ich wünschte, die Dinge wären anders. Doch ich brachte keinen Ton heraus. Und vielleicht war es auch gut so, vielleicht wusste er es eh schon, als er mit hängenden Schultern im Regen davon ging. Das war es also, das Ende, realisierte ich und eine Träne lief langsam über meine Wange. Doch es war auch ein Neubeginn, sagte ich mir und meine Mundwinkel zogen sich nach oben zu einem Lächeln. Einem Lächeln im Regen.